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Emotionale Intelligenz beim Lösen von Schulaufgaben
Auf diesen Seiten finden Sie eine aktualisierte Zusammenfassung meiner Untersuchungsergebnisse über die Bedeutung von sogenannten Zustandsemotionen beim Lösen von schulischen Aufgaben. Die Hintergründe der Studie und die verwendeten Forschungsmethoden finden Sie in: Ingo F. Kretschmer, Problemlösendes Denken im Unterricht, Frankfurt 1983 (Verlag Peter Lang), S. 195 – 213.
„Emotionale Intelligenz“ hat D. GOLEMAN (1995) für einen großen Leserkreis umschrieben. Er meint damit die Tatsache, dass Gefühle keineswegs nur die Gegenspieler der streng rationalen Denkleistungen sind, sondern Gefühle können sogar die besseren Erkenntnisfähigkeiten in komplexen und sich verändernden Anforderungssituationen des Lebens sein. Er gibt dafür viele recht allgemein gehaltene, meist soziale Beispielsituationen. Wie ist das bei schwierigeren Schulaufgaben oder Klassenarbeiten? Wann und wie können Denken und Fühlen so verstärkend zusammenwirken, dass Schüler und Schülerinnen tatsächlich messbar bessere Leistungen erbringen? Diese konkreten, überprüfbaren Fragen beantwortet GOLEMAN nicht. Ich gebe hier einen kurzen Überblick zu gerade diesem Themengebiet: Emotionale Intelligenz bei kognitiven Leistungsanforderungen in der Schule.
1. „Angst macht dumm“
Die Wirkungszusammenhänge zwischen Ängsten und Denkleistungen sind auf unterschiedlichsten
Ebenen untersucht. Sie belegen das volkstümliche Sprichwort. In frühen Experimenten
wird schon der messbare Einfluss von relativ unklaren persönlichen Ängsten auf
Leistungen in Problemlösetestaufgaben nachgewiesen. So gaben CROWNE und HOLLAND
(1968) fälschlicher Weise den Versuchspersonen an, dass aufgrund der ersten
Testdurchführung ein Verdacht aufgekommen sei, dass ihre persönliche Entwicklung
etwas gestört sein könnte. Aber mit der zweiten Testdurchführung könnte dieser
Verdacht ausgeräumt werden. Diese Irritation führte bereits zu einer Verengung
des Leistungsspektrums im nachfolgenden Test.
Aktuelle Forschung fokussiert auf neuronale und molekulare Veränderungen im
Gehirn bei Angst- und Stressinduzierungen. Gefunden wird eine kaskadenartige
Ausschüttung von einem Duzend identifizierter Stresshormone. Jedes Mal tritt
dabei Cortisol auf, das stärkste körpereigene Zellgift. Bei chronisch erhöhter
Ausschüttung von diesen Substanzen kommt es zum sichtbaren Abbau von neuronalen
Vernetzungen, zur verminderten Glucoseaufnahme (Energieminderung) des Gehirns
und zur Steigerung toxischer Neurotransmitter (M. SPITZER: Lernen, Gehirnforschung
und die Schule des Lebens, 2003, 157 ff, J. BAUER: Das Gedächtnis des Körpers,
2002). Also wissen wir derzeit, dass dauerhafte, besonders ungünstige Affekte
sogar eine organische Beeinträchtigung des Denkens verursachen.
2. „Denke positiv!“ hilft nicht viel weiter
Seit der ersten großen wissenschaftlichen Simulationsstudie „Lohhausen“ (D.
DÖRNER u. a.: Vom Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität, DFG-Projekt DO
200/4, 1981) werden auch die längerfristigen Folgen und Nebenfolgen des Denkens
und Entscheidens beim Problemlösen näher untersucht. Es zeigt sich, dass selbstverordnete
Stimmungsaufheller („Ich muss einfach mal positiv an die Sache rangehen!“) oder
gar Selbstermutigungen, die nicht gut mit Sachkenntnissen des Problems korrespondieren
(„no risk no fun, ey“) mit den fehlerreichsten Denkschritten korrelieren. Untersucht
wurden solche Aufgabenstellungen, für die es definiert bessere und definiert
schlechtere Lösungsansätze und Lösungsprozesse gibt. DÖRNER (1989) kann die
„Logik des Misslingens“ dieser Art von ungünstiger emotionaler Intelligenz in
realitätsnahen Denkprozessen exakt beschreiben.
3. „Entspanne dich“ bringt auch nicht viel mehr
Ob körperlich-geistige Entspannung die Denktätigkeit qualitativ verbessern kann,
ist lange unklar. Im Rahmen der Kreativitätsforschung werden unter der experimentell
hergestellten Entspannung von Versuchspersonen verblüffende Denkleistungen hervorgebracht.
Berühmtes Beispiel ist der sogenannte Inkubationszeiteffekt. Schülern werden
diverse relevante und irrelevante Informationen vorgegeben und außerdem eine
Problemstellung, die für sie zunächst nicht lösbar ist. Die Versuchspersonen
werden dann in einen Ruheraum gebracht mit der Aufforderung, sie sollen sich
entspannen, ihre Gedanken sollen sie locker kommen und gehen lassen. Über kurz
oder lang, nach der „Inkubationszeit“ eben, erleben viele Versuchspersonen ein
Aha-Erlebnis: Sie stellen eine neuartige, problemlösende Verbindung zwischen
einer der vorgegebenen Informationen und der bis dahin unlösbaren Aufgabe her.
Bei näherer Betrachtung sind das meist nur assoziative Verknüpfungen, auch wenn
sie noch so genial erscheinen.
Tatsächlich nimmt die Assoziationstätigkeit offenbar unter Entspannung zu, ein
Effekt den Freud therapeutisch zu nutzen versuchte, in dem er eine Couch aufstellte.
Wie ist das aber mit aktiver Denkarbeit, bei der viele verschiedene Denkschritte
in der richtigen Reihenfolge angewendet werden müssen, um zu einem geforderten
Ziel kommen zu können? CIOMPI (1999) arbeitet die „emotionalen Grundlagen des
Denkens“ systematisch heraus. Er zeigt, wie Kognitionen und Emotionen unauflöslich
hirnorganisch miteinander gekoppelt sind. Demnach gibt es keine reinen Gedanken
oder keine reinen Gefühle, die sich beeinflussen könnten, sondern es gibt nur
individuell entwickelte „Affektlogiken“. Persönlich neuartig-interessante Gedanken
sind mit persönlich spannenden Gefühlen gekoppelt. Denkschritte, die für jemanden
arbeitsreich sind, sind für diese Person auch mit Anstrengungsgefühlen gekoppelt.
Es gibt nur vernetzte Fühl-Denk-Muster, die jedes für sich ein hirnorganisches
Surrogat haben. Wenn also eine versierte Mathematikerin erstmals den Satz des
Pythagoras beweisen soll, dann kommt sie mit einer Entspannungsinstruktion keinen
Schritt voran, sondern nur mit der Aktivierung aller ihrer verfügbaren mathematischen
Ressourcen. Das werden individuell angeeignete, gekoppelte Fühl-Denk-Tätigkeiten
sein.
4. Zustandsemotionen beim problemlösenden Denken
Aus den vorausgehenden Abschnitten folgt die Annahme, dass diejenigen Schüler für Problemlösungsarbeit begabter sind, die fördernde emotionale Zustände genau dann erleben, wenn sie tatsächlich auch die erfolgreicheren Denktätigkeiten ausführen und keine anderen. Was heißt das? Wir wissen aus der denkpsychologischen Forschung, dass es eine Reihe von besonders erfolgreichen Denktätigkeiten gibt, wenn es gilt, komplexere schulische Aufgaben lösen zu müssen. Dazu zählen beispielsweise das Alternativenbilden, das forcierte schlussfolgernde Denken und die Metareflexion. Letzteres ist die bewusste Selbstbeobachtung und Überprüfung der unternommenen Denkschritte und die bewusste Vorausplanung der nächsten Schritte. Wenn Schüler diese Denktätigkeiten ausführen und diese gleichzeitig mit handlungsfördernden Emotionen verbinden, dann haben sie Affektlogiken (Fühl-Denk-Muster) zur Verfügung, die besonders wirkungsvoll zu den guten Lösungsleistungen führen. Handlungsfördernd sind momentane emotionale Zustände während des Tuns, also gefühlte Motivation, gefühlte Zufriedenheit mit dem, was gerade passiert, und es ist gefühlte Sicherheit im Vorgehen: „Ich beherrsche das, und es wird mir was bringen, wenn ich so weiter vorgehe.“ Im folgenden spreche ich in diesem Zusammenhang von „Handlungssicherheitsgefühl“.
Will man die Begabung zum problemlösenden Denken fördern, dann muss man die Schüler und Schülerinnen erstens zu den genannten effektiven Denkschritte anleiten. Ganz konkret: Während der Aufgabenbearbeitungen den Prozess kurz unterbrechen und vormachen, wie man an der Stelle Alternativen bildet. Oder Kleingruppen ausdrücklich zum Alternativenbilden beim Schulaufgabenlösen durch Zwischenschrittaufforderungen veranlassen usw. Zweitens muss bei diesen Anleitungen sichergestellt sein, dass die angeleiteten Denkschritte gelingende Aktionen sind, dass sie also für den aktuellen Arbeitsprozess einen sichtbaren oder erfahrbaren Vorteil bringen. Dann, mit zusätzlicher Bewusstmachung, kommt es zu Koppelungen von gelingenden Denkschritten und den handlungsfördernden Sicherheitsgefühlen. Diese Art von gelingender aktionaler Führung bei der Aufgabenbearbeitung hat nachweisliche Chancen für die Aneignung neuer Affektlogiken, und sie ist damit eine Förderung der emotionalen Intelligenz (siehe dazu auch die Ausführungen zur Begabungsförderung durch Denktrainings auf dieser Internetseite).
5. Untersuchungsergebnisse
Zusammenhänge von Zustandsemotionen und problemlösenden Denkschritten bei schwierigeren
Schulaufgaben lassen sich mit einer Prozessdiagnostik erfassen. Dabei werden
Schüler angeleitet, sogenannte „Blitzeinschätzungen“ ihrer Gefühle in einfach
formulierten Ratingskalen anzukreuzen. Sie sollen diese Blitzeinschätzungen
in kurzen Unterbrechungen ihrer Lösungsversuche abgeben. Auf diese weise lassen
sich bestimmte Gefühlsveränderungen und die real erbrachten Teil- und Ergebnisleistungen
erfassen.
Die Untersuchung wird mit 96 Schüler und SchülerInnen in ihren Klassenverbänden
als Unterrichtsprojekt durchgeführt. Sie sind zu dem Zeitpunkt im Schnitt 12
Jahre alt, und bezüglich ihrer Begabungen weisen sie eine hohe Varianz auf,
weil es sich um halbwegs „echte“ Gesamtschulklassen handelt (Förderstufenklassen
einer hessischen Versuchsschule).
Aufgrund der Vorüberlegungen wird vorausgesagt, dass diejenigen Schüler, die bereits über erfolgreiche problemlösende Denkschritte verfügen (hier: Alternativenbildung, folgerndes Denken, Vorausplanung) beim Durchführen dieser Denkschritte höhere Handlungssicherheitsgefühle angeben als solche Schüler, die dieses Denken nicht so gut beherrschen. Und störende Stress- und Anspannungsgefühle während der Arbeit wird man bei den denkschwächeren Schülern mehr, bei den denkstärkeren weniger finden.
In Tabelle 1 sind die KENDALL-Korrelationskoeffizienten für Ausprägungen von
drei geistigen Tätigkeiten und drei Gefühlen angegeben. Diese Zusammenhänge
werden bei schwierigeren Zahlenreihenaufgaben erfasst. Die eingeklammerten Zahlen
darunter geben das Signifikanzniveau an: Alle untersuchten vorhergesagten Zusammenhänge
sind statistisch signifikant bis hoch signifikant! Es ist meines Wissens der
erste numerische Nachweis für das weiter oben beschriebene Konstrukt der emotionalen
Intelligenz im schulischen Bereich.
Tabelle 1: Aufgelistet sind die Korrelationen zwischen bestimmten Gefühlen und Denkleistungen. Beispielswiese erkennt man in der zweiten Zeile, dass das Alternativenbilden sehr stark positiv mit dem Handlungssicherheitsgefühl zusammenhängt: Hohe Handlungssicherheit geht mit hohen Alternativenbildungskompetenzen einher. Bei schwachen Sicherheitsgefühlen kommt es nur zu sehr geringen Alternativenbildungen. Bezüglich der Anspannungsgefühle ist dieser lineare Zusammenhang gerade umgekehrt: hohe geistige Anspannung geht mit niedriger Alternativenbildungskompetenz einher usw.
Spannend ist die Frage nach dem Ausmaß , in dem schulische Leistungen vorhergesagt werden können, wenn man die Zustandsemotionen der Schüler genauer kennt. Denn angenommen, Zustandsemotionen sind ein starker Faktor für kognitive Leistungen, dann hat man mit der besonderen Förderung dieser bestimmten emotionalen Kompetenzen einen weiteren wirkungsvollen Ansatz der Begabungsförderung neben dem direkten Training der entsprechen kognitiven Fertigkeiten.
Die Frage nach dem quantitativen Ausmaß habe ich mittels einer multiplen Regressionsanalyse
geklärt, bei der die Emotionsratings als Prädiktorvariablen und die tatsächlich
erbrachten Lösungsleistungen als Kriteriumsvariablen behandelt werden. Tabelle
2 zeigt, dass unter Einbeziehung aller drei erfassten Zustandsemotionen zusammen
Koeffizienten zwischen .42 und .51 gefunden werden. Das entspricht einer Varianzaufklärung
der erbrachten Lösungsleistungen von 18% und 26%. (Der statistische Schätzwert
wird durch Koeffizientenquadrierung ermittelt.) Diese Größenordnung ist verblüffend
hoch. Nach der Skala für Stärkegrade (COHEN) entspricht das dem Grad „großer
Effekt“. Diesen Grad weisen auch die IQ-Testleistungen der Versuchsschüler
auf. Die IQ-Werte der Kinder korrelieren eben so hoch mit den Lösungsleistungen
der schulischen Aufgaben wie die Ratings ihrer drei Zustandsemotionen beim
Aufgabenlösen! Diagramm 1 zeigt die Größenordnungen, mit denen die untersuchten
Bestandteile der emotionalen Intelligenz mit den erbrachten Schulleistungen
zusammenhängen.
Tabelle 2: Angegeben sind die Zusammenhänge zwischen den Denkleistungen (richtige Ergebnisse) und den dabei eingeschätzten Zustandsemotionen bei je einer relativ schwierigen Englisch-, Mathematik- und Sachkundeaufgabe. Die Zahlenwerte der ersten Zeile zeigen, dass bei der Englischaufgabe hoch signifikant bessere Ergebnisse mit höheren Handlungssicherheitsgefühlen zusammenhängen. Rechnet man zusätzlich noch die Gefühle geistiger Anspannung mit ein, ergibt sich eine weitere signifikante Aufklärung der Bedingungszusammenhänge. Die zusätzlich außerdem noch mit eingerechnete körperliche Anspannung bringt dann keine weitere Effektaufklärung.
Diagramm1: Dargestellt ist die Gesamtvarianz der Leistungen in den schwierigen
Englisch-, Mathematik- und Sachkundeaufgaben (100%). Davon hängen ca.
22% eng mit den gemessenen Zustandsemotionen zusammen und ca. 40% mit
den besonders effektiven Denktätigkeiten des Vorplanens, Alternativenbildens
und Folgerns. Ca. 38% der Leistungen hängen mit anderen Faktoren zusammen,
z. B. mit dem unterschiedlichen Vorwissen der Schüler oder mit ihren individuellen
Leistungsbereitschaften u. a. m.
Es gibt also empirische Belege dafür, dass bestimmte problemlösende
Denktätigkeiten in Verbindung mit bestärkenden Handlungssicherheitsgefühlen
genau solche Denk-Fühlmuster darstellen, die zu starken Leistungssteigerungen
bei schwierigeren Schulaufgaben führen.
Diese Befunde zur emotionalen Intelligenz beim schulischen Lernen sind
deswegen so bedeutsam, weil die emotional-kognitiven Handlungsmuster der
Schüler und Schülerinnen mit Unterrichtsmaßnahmen einfacher und wirksamer
beeinflussbar sind als beispielweise der IQ der Schüler oder die
Konzentrationsfähigkeit. Die emotionale Intelligenz in Form von diesen
genauer beschreibbaren, gelingenden Fühl-Denk-Mustern eröffnet neue Begabungsmöglichkeiten
in der Schule.
Druckoptimierte Version (PDF-Datei): Emotionale Intelligenz bei Schulaufgaben